Wie es bei mir ablief…
Meine Coming-Out-Geschichte soll Personen – vor allem Jugendlichen –, die vor ihrem Coming-Out stehen, zeigen, dass sie nicht alleine sind und ihnen somit Mut machen, sich zu outen und ihre Sexualität in Zukunft offen (aus-)leben zu können.
Homosexualität ist das Natürlichste, was es gibt. Wortwörtlich! Sie kommt in der Natur vor (auch bei Tieren), denn wir (5 bis 10% der Weltbevölkerung) haben uns unsere Sexualität nicht ausgesucht, sondern sie steckt in uns und wir haben sie – früher oder später – entdeckt. Und je früher man sie entdeckt und erkennt, desto besser ist es. Das einzige Unnatürliche ist das Unterdrücken der sexuellen Gefühle, die in einem stecken.
Bei mir hat es relativ lange gedauert, bis ich mein Coming-Out hatte, und zwar mit 22 Jahren, denn gewusst habe ich es eigtl. schon länger.
^ Erste Anzeichen
Es fing in der Pubertät damit an, dass ich mich dafür interessierte, wie die anderen Jungs „untenherum“ aussahen. Im Laufe der Jahre ertappte ich mich immer wieder, wie mein Blick von „süßen“ Jungs angezogen wurde (wobei jetzt das Gesicht ausschlaggebend war), während das gegenüber Mädchen kaum bis gar nicht der Fall war. Aber der Gedanke, dass ich schwul sei, naja... irgendwann wusste ich es wohl schon, aber es war nur im Hinterkopf, ich wollte den Gedanken nicht zulassen. Schließlich war ich anders als die anderen, ich war ja nicht „normal“. Anfangs dachte ich wohl, dass ich einfach nur neugierig sei, dass es nix zu bedeuten hätte.
Wenn ich früher im Fernsehen einen Jungen mit einem Mädchen sah (die sich womöglich auch noch küssten), dann war ich immer neidisch auf den Jungen. Aber wenn ich heute darüber nachdenke, war ich immer nur dann neidisch, wenn der Junge süß/niedlich war. Hatte ich etwa Minderwertigkeitskomplexe? Schließlich identifizierte ich mich ja mit dem Jungen, der das Mädchen küsste – es hieß ja immer: „Na, hast du schon eine Freundin?“ Und auch in der Schule kam Homosexualität überhaupt nicht vor. Aber wieso identifizierte ich mich immer nur mit gutaussehenden Jungs? Aber nein, es waren keine Minderwertigkeitskomplexe. Heute weiß ich, dass ich auf das Mädchen neidisch war (weil es den Jungen küsste).
^ Inneres Coming-Out
Aus heutiger Sicht kann ich ebenfalls sagen, dass ich bereits mit 16, spätestens 17, wusste, dass ich wohl schwul bin. Denn immer dann, wenn das Thema aufkam, fühlte ich mich angesprochen. Zum Beispiel als ich einmal mit meiner Mutter vor dem Fernseher saß, und in einer Talkshow der Gast auf die Frage, ob er denn eine Freundin oder Frau hätte, antwortete, er lebe in einer Beziehung. „Aha, also eine Freundin!“ folgerte der Talkmaster. Da meinte meine Mutter: „Ja, oder ein Freund! Wieso muss es immer eine Freundin sein?“ – Dafür liebte ich sie. Also muss ich es ja wohl schon gewusst haben. Nur wahrhaben wollte ich es nicht. Das dauerte dann nochmal ca. 3 Jahre.
Erst als ich mit 19/20 in einer Mailbox mit anderen darüber frei sprechen konnte (durch die Anonymität), vor allem mit jemandem im gleichen Alter, dem es genauso ging, habe ich mir nach und nach selbst eingestanden, dass ich ... naja, zunächst nur, dass ich wohl bi sei, erst dann, dass ich schwul bin. Ja, ich fand' Jungs mehr anziehend als Mädchen, aber Jungs küssen? – Nie!
Wieder etwas später habe ich es nicht mehr ausgeschlossen, und inzwischen hatte ich sogar zwei Beziehungen und kann jetzt sagen, dass ich es mir inzwischen gut vorstellen kann.
^ Äußeres Coming-Out
Naja, und eben genau während der ersten Beziehung hatte ich mit 22 mein Coming-Out vor meiner Mutter (die es dann meinem Bruder erzählte, wir drei wohnten zusammen) und im engen Freundeskreis – das war weitere 3 Jahre nach meinem „inneren“ Coming-Out. Meine Mutter hatte eh' schon was geahnt, da ich auch mal nachts weggeblieben bin und von einem Jungen abgeholt wurde, den sie noch nicht kannte.
Aber ich wusste, dass ich mit (fast?) allem zu meiner Mutter kommen kann, und so hatte ich keine Angst davor. Sicher fällt es einem nicht sonderlich leicht, aber sie hat es einigermaßen gut aufgenommen, auch wenn sie nicht begeistert war („Was ist denn mit AIDS, usw.“)... Vor allem dachte sie, dass ich evtl. in die Szene und an 40-jährige Zuhälter geraten könnte oder vielleicht schon bin. Naja, eben die Vorurteile, die es immer so gibt. Aber als mich dann mein gleichaltriger Freund abgeholt hat, der ebenso wie ich ganz natürlich ist (und nicht tuntig oder so), war sie sicher beruhigter.
Als ich dann meine besten Freunde zum Gesellschaftsspielen eingeladen hatte, war mein Freund bereits bei mir und hat dann mitgespielt. Mitten im Spiel habe ich dann gesagt: „Jetzt kommt die Überraschung des Abends. Wie ihr wisst, bin ich immer für Überraschungen gut: Ich habe mich verliebt. Eine Ahnung, in wen?“ Und dann bin ich wortlos aufgestanden, zu meinem Freund gegangen und habe meinen Arm um ihn gelegt. Ich war schon sehr aufgeregt, aber die positive Reaktion meiner Freunde erleichterte mir das um einiges. Denn einer hat gesagt: „Ja, gut, und spielen wir jetzt weiter?“ Eine meinte: „Find' ich gut!“ Na, sie wollten dann natürlich noch mehr über ihn und unser Kennenlernen wissen, aber dann haben wir einfach weitergespielt.
Verwandtschaft
(Nachtrag 1) – Inzwischen hat sich meine Vorliebe in der Familie/Verwandtschaft herumgesprochen, soweit ich das erfahren habe. Aber das Verhältnis hat sich nicht verändert. Als Beispiel sei meine Großtante erwähnt. Meine Mutter berichtete mir, dass meine Großtante davon erfuhr, dass ich schwul sei. „Was, Oliver ist schwul?“ fragte sie meine Mutter. „Ja!“ – „Hmmm... Aber er bleibt trotzdem mein Lieber!“
Coming-Out im Nebensatz
(Nachtrag 2) – Vor einer Weile war ein Freund, den ich noch aus der Schulzeit kenne, bei mir, und wir haben zusammen am Computer gespielt. Danach erzählte er mir noch von seinen Beziehungsproblemen mit seiner Freundin. Und während wir darüber sprachen, sagte ich irgendwann – fast beiläufig –, dass ich ihm in der Hinsicht nicht so sehr helfen könne, weil ich da keine Erfahrungen habe... mit Frauen. „Ja, und?!“ sagte er. Ich meinte: „Na, weil ich schwul bin.“ – „Jaja, schon klar. Und? Weiter? Du wolltest doch noch was sagen!?“ Tja, das war wie ein Coming-Out im Nebensatz. Ganz beiläufig. Ja und? Nix und. Wir haben dann einfach weitergeredet.
„Greenpeace?“
(Nachtrag 3) – Letztens war ich bei einem weiteren Freund aus der Schulzeit auf dessen Geburtstagsfeier. Irgendwann fragte er mich: „Na, hälst du immer noch die Fahne hoch: »Junggeselle«? Oder hattest du schon eine Beziehung?“ – „Ja, hatte ich schon.“ – „Ach... und wie lange?“ – „Sechs Wochen.“ – „Achso, war ja nicht so lange.“
Mehr wollte er nicht wissen. Und da andere dabei waren, habe ich auch nicht mehr gesagt. Als wir später unter uns waren, habe ich dann aber gesagt: „Du hattest doch vorhin wegen der Fahne gefragt. Wenn, dann halte ich eine andere Fahne hoch.“ – „Und welche?“ – „Die Regenbogenfahne! – Sagt dir das was?“ – „Hmm... Greenpeace?“ – „Nein...! Das ist das Zeichen von Schwulen.“ – „Achso. ... ACHSO! ... Och, naja... Warum nicht!?“ Beim zweiten „Achso“ fiel der Groschen. Damit hatte sich das Thema aber auch erstmal erledigt. Zu meinem nächsten Geburtstag hat er mir dann ein Schwulencomic (von Ralf König) geschenkt.
^ Langer Prozess
(Nachtrag 4, 1998) – Ich habe gerade meine zweite Beziehung hinter mir, meine erste große Liebe. In dieser Beziehung habe ich mich nochmal weiterentwickelt. Bei meinem ersten Freund traute ich mich noch nichtmal, im dunklen Kino Händchen zu halten. Und als er mich mal auf der Straße (wohlgemerkt eine Nebenstraße im Dunkeln) küssen wollte, meinte ich: „Was, hier?“ – Und er: „Hey, wir sind hier in Kreuzberg!“ – Achso, na dann...
In meiner zweiten Beziehung habe ich mich nun viel offener gegeben, wenn auch nach und nach. Händchenhalten im Kino? Nö – Küsschen im Kino (und nicht nur da)! Wie meinte doch mein zweiter Freund |Lucky|: „Wenn ich das nicht in Berlin machen kann, wo dann?“ Und so war es auch einfach schön, sich so ungezwungen zu zweit zeigen zu können. Wir haben auch keine negativen Reaktionen erfahren. Eigentlich nur positive, zum Beispiel als wir Arm in Arm aus dem Bahnhof Zoo gingen, sagte ein Mann, an dem wir vorbeigingen: „Wahre Liebe gibt es nur zwischen Männern!“
Was ich damit sagen will: Es ist ein langer Prozess, sowas geht nicht von heute auf morgen. Insofern sollte man auch seinen Eltern, Verwandten und Freunden Zeit lassen. Denn man selbst hat sich beim Coming-Out schon länger mit seinem Schwulsein befasst, die anderen haben erst ab diesem Zeitpunkt Gelegenheit dazu. Das habe ich zum Beispiel an meiner Mutter bemerkt. Denn inzwischen geht sie mit dem Thema noch lockerer um als am Anfang. Und als ich letztens von meinem Freund verlassen wurde, konnte ich heulend in ihre Arme fallen und sie mich trösten.
(Nachtrag 5, 1999) – Zum Glück musste ich nicht so lange warten, bis ich meinen dritten Freund finde, denn seit einer Woche bin ich bis über beide Ohren verliebt. Ich war mit Basti auch auf dem Berliner CSD, an dem ich nun schon zum dritten Mal teilnahm. Mit Basti habe ich mich von Anfang an in der Öffentlichkeit ganz ungezwungen bewegt, Hand in Hand, Arm in Arm, knuddelnd oder küssend. So ändern sich die Zeiten: vom versteckten, unsicheren kleinen Oli hin zum offenen, helfenden Keks, der solche Seiten wie diese Homepage oder die GayStation (gibt es inzwischen nicht mehr) im Internet anbietet.
Siehe auch: Beziehungen, die mein Leben veränderten
^ Mein Fazit
Erst muss man sein Coming-Out sich selbst gegenüber haben, sich klar sein, über das, was man fühlt. Ich nenne das das „innere Coming-Out“. Und außerdem muss man ja kein „Coming-Out“ haben. Ich gehe ja auch nicht mit einem Schild „Ich bin schwul!“ herum. Aber wenn mich jetzt jemand aus der Verwandtschaft darauf (auf Thema Freundin oder ähnliches) ansprechen sollte, werde ich es nicht mehr verheimlichen. Aber direkt jemandem erzählen? Warum? Andere erzählen mir ja auch nicht, wie sie es machen, ob übereinander, nebeneinander, Sado/Maso, mit Natursekt, zu zweit, dritt, viert, ... (beliebig fortsetzbar ), ob zu Hause, im Wald oder mit wem.
Nachtrag: Naja, das kann man eigentlich nicht vergleichen. Denn das eine ist die sexuelle Orientierung (homo/hetero/bi), das andere sind die sexuellen Vorlieben. Das wurde mir durch den Kommentar von Anders bewusst. Außerdem habe ich seit meinem Coming-Out gemerkt, wie ich es immer wieder interessant finde, weiteren Leuten davon zu erzählen, um die Reaktionen zu beobachten. Und warum sollte man es auch nicht erzählen. Schließlich erzähle ich ja damit nicht meine sexuellen Vorlieben. Aber ich bleibe dabei: man muss es nicht erzählen. Aber irgendwie macht es mir inzwischen sogar Spaß.
Und warum habe ich es damals meinen Freunden erzählt? Na, ganz klar: weil ich einen Freund hatte, und der sollte ja bei unseren Treffen dabei sein, da wäre das nur eine Frage der Zeit gewesen, und so hätten wir keine Distanz voneinander halten müssen. Und es ist sicherlich besser, es über „Schaut mal, ich habe mich verliebt!“ als über ein einfaches „Ich bin übrigens schwul!“ zu sagen. Außerdem gibt es ja den Spruch: „Was einen nicht umbringt, stärkt einen.“ Ich habe diesen Spruch nun auf die Freundschaft umgemünzt: „Was die Freundschaft nicht zerstört, festigt sie.“ – Und sie wurde gefestigt!
Im Endeffekt fühle ich mich jetzt besser als vorher. Ich fühle mich freier. Ich muss mich jetzt nicht mehr verstecken. Ich kann mit meinen Freunden über meine Probleme reden oder sogar mit ihnen Witze darüber machen. Sicher, es war irgendwie auch interessant, ein Geheimnis zu haben, etwas, was keiner von einem wusste. Aber es gibt ja immer noch genügend Leute, die es nicht wissen und denen ich es auch dann nicht sagen würde, wenn sie mich darauf ansprächen – das hängt also auch von der jeweiligen Person ab. Und außerdem habe ich eine Menge neuer (gleichgesinnter) Freunde gefunden, dem Internet sei Dank. Ich kann mir heute gar nicht mehr vorstellen, nicht schwul zu sein.
^ Warum ist es aber eigtl. so schwer, es sich einzugestehen?
Ich denke, das liegt an verschiedenen Dingen:
- Als entscheidend mitbestimmend finde ich die Tatsache, dass man im Fernsehen Schwule meist nur aufgetakelt in Kleidern und mit tuntigem Verhalten sieht, auch wenn sich das in letzter Zeit gebessert hat. Als Jugendlicher, der merkt, dass er anders ist, wird man doch total verunsichert: „Was? Ich soll schwul sein? Ich bin doch nicht so einer, der in Frauenkleidern rumläuft und so komisch spricht.“ Es geht sogar soweit, dass man Männer in Frauenkleidern automatisch für schwul hält, was ebenfalls nicht stimmt. Bei der Travestie zum Beispiel, bei der es nur um die Show geht, die Männer also privat „normal“ gekleidet sind, sind es überwiegend heterosexuelle Männer. Ebenso sind die meisten schwulen Männer ziemlich normal gekleidet und nur eine Minderheit tuntig.
- Ein weiterer Grund ist das „Normverhalten“. Damit meine ich solche Sprüche der Verwandtschaft wie: „Na, hast du schon eine Freundin?“ und dass vom Heiraten und Kinderkriegen geredet wird, als sei das vorherbestimmt.
- Zum anderen ist leider in einigen Köpfen noch die Vorstellung, Homosexualität sei etwas Schlimmes, eine Krankheit (Beispiel: so denkt die Mutter eines Freundes – und das als Ärztin!), geistige Verwirrtheit oder gar etwas, was man sich aussuche. Fakt ist, dass es nichts davon ist. Warum man schwul wird, ist nicht geklärt. Ich denke, es steckt einfach in einem, und äußere Einflüsse wie Erziehung und Umfeld können das lediglich beeinflussen, z.B. wie schnell man es entdeckt bzw. zulässt.
Ich denke, dass sich die Situation für das Coming-Out schon ergeben wird. Aber auf jeden Fall ist es besser, dass es z.B. die Eltern von einem selbst erfahren, als irgendwie „hintenrum“.
Keks alias Oliver ReimannSiehe auch:
It's okay to be gay!
Schwul ist cool!
Todd, ich & Fischi beim CSD '98
Schwule Jungs
München. Eine repräsentative BRAVO-Umfrage (Heft 14/97) hat ergeben, dass 25 Prozent aller Jungs zwischen 14 und 17 schwule Erfahrungen haben.
Das Ergebnis:
- „Ich habe schwule Erfahrungen gemacht.“
- 25%
- „Ich bin schwul.“
- 2%
- „Ich habe nichts gegen Schwule.“
- 68%
(Aus „ADAM“, Mai `97)